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Das BVerfG hat eine Kindergeldregelung für verfassungswidrig und nichtig erklärt, die von 2006 bis 2020 in Kraft war und vorsah, dass nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, denen der Aufenthalt in Deutschland aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt war, einen Kindergeldanspruch nur dann hatten, wenn sie neben einem dreijährigen Aufenthalt auch bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllten.

Grundsatz

Bei der zugrunde liegenden Vorschrift handelt es sich um § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006. Danach war die Gewährung von Kindergeld an nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige davon abhängig, über welche Art von Aufenthaltstitel sie verfügen: Während jene mit stets unbefristeter Niederlassungserlaubnis und jene mit befristeter Aufenthaltserlaubnis, sofern diese eine Erwerbstätigkeit erlaubte oder erlaubt hatte, einen Kindergeldanspruch hatten, waren solche, denen der Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt war, nur dann anspruchsberechtigt, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllten.

Entscheidung

Das BVerfG hat nun acht Jahre nach den Vorlagen des niedersächsischen FG § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Die Regelung bewirkt eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen von Ausländern mit humanitärem Aufenthaltstitel. Diese Ungleichbehandlung ist nicht dadurch gerechtfertigt, dass das Fehlen eines Kindergeldanspruchs im Regelfall durch den Anspruch auf Sozialleistungen kompensiert wird. Denn auch in diesem Fall kann es zu einer wirtschaftlichen Schlechterstellung derjenigen Ausländer kommen, die keinen Kindergeldanspruch haben.

Mit erheblichen finanziellen Nachteilen kann der Wegfall des Kindergeldanspruchs auch dann verbunden sein, wenn die Betroffenen über eigenes Vermögen verfügen und daher – trotz fehlenden Erwerbseinkommens – keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben.

Die Ungleichbehandlung hält das BVerfG für nicht gerechtfertigt. Denn das Kriterium der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht geeignet, um den Zweck der Vorschrift zu erreichen, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten werden.

Der Schluss, dass ohne Erwerbstätigkeit keine zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts möglich ist, ist nicht haltbar. Denn gerade bei humanitären Aufenthaltstiteln hängt die Aufenthaltsdauer in der Regel stärker von der Situation in den Herkunftsstaaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung ab.

Ferner steht es der Aussicht auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel nicht zwingend entgegen, wenn die in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 ­geforderte Integration in den Arbeitsmarkt im Zeitpunkt der Entscheidung nicht erfüllt ist. Denn maßgeblich dafür ist, ob angenommen werden kann, dass der Betroffene in der Zukunft auf Dauer erwerbstätig sein wird. Insofern wird es der tatsächlichen Situation der Betroffenen auch nicht gerecht, einen kurzen Zeitraum des Bezugs von Arbeitslosengeld II als Indiz gegen eine Arbeitsmarktintegration zu werten.

Auch andere Differenzierungsgründe fehlen. Soweit die Auffassung vertreten wird, § 62 Abs. 2 EStG 2006 diene auch dem Zweck, Zuwanderungsanreize insbesondere für kinderreiche Ausländer abzubauen, kann das BVerG eine dahingehende Entscheidung des Gesetzgebers nicht erkennen. Entsprechendes gilt für wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Zwar handelt es sich auch dabei um einfachgesetzlich geregelte Belange im Aufenthaltsrecht, die grundsätzlich als Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung in Betracht kommen können. Doch auch diese Zielsetzung ist bei der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG 2006 nicht erkennbar verfolgt worden.

Beachten Sie | § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG wurde mit Wirkung zum 1.3.2020 geändert. Nach dem in die Vorschrift neu eingefügten § 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nunmehr Kindergeld, wenn er einen der in Nr. 2 Buchst. c genannten humanitären Aufenthaltstitel besitzt und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält. Auf eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt kommt es nicht mehr an.

fundstelle
BVerfG 28.6.22, 2 BvL 9/14